Das Kirschtortenkomplott

Das Kirschtortenkomplott

Kirschtorte mit Schuss
Dass eine Schwarzwälder Kirschtorte sich wehrt, wenn man sie anschneiden will, hat man noch nie gehört. Man kennt Torten, aus denen springen lebende Pin-up-Girls heraus, zum Beispiel bei Mafia-Hochzeiten, bei Silvesterbällen auf Kreuzfahrtschiffen oder bei ähnlichen Anlässen. Nur geschossen hat eine Schwarzwälder Kirschtorte noch nie. Das sollte sich ändern:
„Und nun, meine Damen und Herren, verehrte Gäste, lassen Sie uns zum Höhepunkt des Nachmittages kommen. Gönnen wir uns jeder ein Stück von dieser prachtvollen Schwarzwälder Kirschtorte. Wer will das erste Stück?“
Petra Pollak, die Dame von der Kurverwaltung, hob das Küchenmesser, wie ein Dirigent seinen Taktstock. Einige Sekunden verharrte sie in der Pose, das Messer hoch in die Luft gereckt, vor ihr auf dem Tisch die sahneglänzende Schwarzwälder Kirschtorte. Ihre Frage war zwar nur rhetorisch gemeint, aber Alfred hob trotzdem den Finger.
„Ich, bitte! Ich nehme gerne das erste Stück!“
Petra Pollak veränderte ihre Körperhaltung nicht, Ausfallschritt Richtung Tisch, Kuchenmesser über dem Kopf, schielte aber fragend zu Alfred, dem Jungredakteur, hinüber. Seit sie die Kirschtorten-Kurse der Kurverwaltung Lenzkirch leitete, waren ihr immer wieder mal vorlaute Teilnehmer untergekommen. Besserwisser, Nörgler, Quassler und Eiferer. Aber so einen unbelehrbaren Störenfried wie Alfred, diesen jungen Redakteur vom Hochschwarzwald-Kurier, hatte sie noch nie unter den Kursteilnehmern gehabt. Was der alles wissen wollte! Was der alles fotografierte! Wie der den Laden aufhielt! Hätte sie ihm doch nur nie erlaubt, eine Reportage über die Kirschtorten-Kurse der Kurverwaltung Lenzkirch zu schreiben. Sie hätte sicher einen beschaulicheren Nachmittag verbracht.
„Was ist nun?“ fragte Burkhard Knospe, der groß gewachsene Manager der Lenzkircher Testo AG, der hier im Kurs alle überragte, und in dessen Augenhöhe ungefähr Petra Pollaks Kuchenmesser verharrte. „Lassen Sie das Fallbeil endlich auf die Torte nieder“, forderte er mit belustigtem Unterton. „Wir wollen doch wissen, wie sie schmeckt“.
Petra Pollak, eine schlanke, energische Person, nach den Backmühen des Nachmittages mit einer etwas zerzausten Frisur und expressionistischen Sahne- und Schokospritzern auf der umgehängten Bäckerschürze, lächelte ihr fröhliches Stiefmütterchenlächeln und warf noch einmal blitzende Blicke in die Runde. Sie wollte die Spannung noch etwas ausreizen. Die Teilnehmer des touristischen Einsteigerkurses „Schwarzwälder Kirschtorten selbst backen“ standen erwartungsvoll um sie herum und hielten brav wie Internatskinder bei der Essensausgabe ihre Kuchenteller vor sich.
Das war diesmal sowieso eine seltsame Runde gewesen. Wer wollte alles bei der Kurverwaltung lernen, wie man eine Schwarzwälder Kirschtorte backt? Ein älteres holländisches Touristenehepaar. Er sprach „Schwarzwälder Kirschtorte“ aus wie „Schwauwouwou Kiss-Dourtte“, und es klang, als kaue er an einem alten Wohnmobilreifen. Seine Frau hatte während des Kurses gar nichts gesagt, sondern immerzu nur ihre Finger sowie alle greifbaren Messer, Löffel, Rührer und Schneebesen abgeschleckt, sehr zum Ärger aller übrigen Kursteilnehmer, die in Folge dieser Unsitte mit dem Geschirrwaschen fast nicht mehr nachgekommen waren.
Dann hatten zwei Lenzkircher Hausfrauen teilgenommen, die alles besser wussten. Petra Pollack kannte sie bereits, sie kamen zu jedem Kirschtortenkurs und wussten immer alles besser.
Außerdem als ganz illustrer Teilnehmer Burkhard Knospe, der Chef des größten, erfolgreichsten und bekanntesten Lenzkircher Industrieunternehmens, der TestoAG. Er war nicht alleine erschienen, sondern mit zwei Entwicklungsingenieuren aus seinem Hause, Patrick Schwörer, einem rustikalen, breit gebauten Einheimischen, der sich als besonderes Talent beim Steifschlagen der Sahne erwiesen hatte, sowie mit Jens Amberg, einem jungen und etwas blassen Intellektuellen, der sich sehr bescheiden im Hintergrund gehalten hatte und eigentlich nur durch eine extrovertiert lila-gestreifte Krawatte aufgefallen war, die partout nicht zum rot-weiß karierten Hemd passen wollte. Die drei Testo-Männer hatten zum Gelingen des Kirchstortenkurses herzlich wenig beigetragen, sondern eigentlich nur gestört, weil sie ständig irgendwelche Thermometer, Sensoren und Schläuche in die Sahne und die Kuvertüre gesteckt und sich dabei eifrig Notizen gemacht hatten.


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