1. Das Stadtbild:
Neustadt glich um die Jahrhundertwende 1900 einer einzigen Baustelle. In der Stadt mit ihren 3276 Einwohnern (Volkszählung vom November 1900) wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Drunten in der Unterstadt wurde die neue Bahnlinie nach Donaueschingen gebaut, dort war auch die Großbaustelle Neustädter Hof. Am Rathausplatz wuchs seit 1898 das neue katholische Münster in den Himmel. Auf der Allmend war Neubaugebiet, dort entstanden prächtige Villen entlang der Schillerstraße, die heutige Friedhofstraße wurde gerade mit viel Aufwand angelegt, oben an der Leopoldstraße stand die 1898 fertiggestellte Hansjakobschule. Mit ihrer Turnhalle diente sie während des Münsterbaus zunächst als Ersatzkirche und wurde deshalb erst 1901 offiziell für den Schulbetrieb freigegeben. Die Allmendstraße wurde ebenfalls gerade erst angelegt. Die Stadt verkaufte dort Baugrundstücke zum Quadratmeterpreis von 50 Pfennigen (1904). In der ganzen Stadt breitete sich wie ein Spinnennetz das elektrische Leitungssystem aus, das gerade 1899 in Betrieb genommen worden war, und im Osten brummte und summte es rund um die Papier- und Schraubenfabrik, im Westen um die Sägewerke in Hölzlebruck.
Zahlreiche ausländische Saisonarbeiter bevölkerten die Stadt, vorwiegend Italiener, die sich in Dutzenden von schrägen Barackenwirtschaften entlang der Bahnstrecke ihre hitzigen Raufhändel lieferten und den einheimischen Mädchen nachstellten. Zwischen Bahnhof Neustadt und Baustelle Kappel-Gutachbrücke gab es zwölf Barackenwirtschaften. Noch mehr am weiteren Teilstück bis Döggingen. Diese Holzhütten wurden von Großbrauereien errichtet.
Der Goldrausch entlang der Bahnstrecke nahm gewaltige Ausmaße an. Da wurden Wirtschaften mit nur kleinen Räumlichkeiten zu über 3000 bis 4500 Mark jährlich verpachtet, ein Wucherpreis, vor allem in den Dörfern mit ihren nur wenigen hundert Einwohnern (Rötenbach, Bachheim, Unadingen etc.) Bezüglich der Barackenwirtschaften notierte der Hochwächter: "Wenn alle die Pächter auf ihre Rechnung kommen wollen, müssen die Arbeiter jedenfalls mehr im Wirtshaus als auf der Baustätte zu treffen sein." Die Zeitung klagt aber auch: "Daß mit dem fremden Element auch mancherlei Personen zweifelhaften Rufes die Gegend beglücken ist klar. Es kam auch schon zu kleineren Schlägereien von Italienern unter sich. Dem Polizeidiener von Döggingen, welcher bei solcher Gelegenheit abwehren wollte, blieb nichts übrig, als sich mit blanker Waffe gegen die ihn umringenden Italiener zu verteidigen, wobei er einem derselben den Zeigefinger vollständig durchspaltete." Jedenfalls verging kaum ein Tag ohne blutige Schlägereien und Messerstechereien. Im Krankenhaus, das damals am Fullberg stand, wurden die streitlustigen Südländer dann wieder zusammengeflickt. Alle Vierteljahr tagte in Neustadt das Schöffengericht und es wimmelt bei den Verhandlungen von Salvadores, Marios, Tonios und anderen Heißblütern, die sich wegen Raufhändel, Diebstahl, Erpressung und sonstiger landestypischer Vergehen verantworten mußten. Ein "Pietro", einquartiert auf dem Schachenhof, stand sogar wegen "widernatürlicher Unzucht" vor Gericht. Möge jeder sich seinen Teil denken. Diese vielen ausländischen Arbeiter, den Begriff "Gastarbeiter" gab es damals noch nicht, wurden gebraucht, zuvorderts für den Bahnbau, aber auch für den Münsterbau und die anderen Großbaustellen. Einige Tüchtige sind aus jener Zeit auch im Hochschwarzwald hängengeblieben, Familiennamen wie Agosthini, Peghini oder Bombardi erinnern daran.
Manchmal schaffte die Höllentalbahn pro Tag bis zu dreihundert neue Arbeitskräfte nach Neustadt. Sie verstreuten sich dann weiter nach Rötenbach, Löffingen und Döggingen. Die Neustädter staunten. Die Welt kam auf den Wald! Noch waren alle Straßen in Neustadt ungeteert und nur unzureichend gepflastert. Man spazierte an feuchten Tagen im Schlamm und an trockenen Tagen im Staub. In der Hauptstraße war auf der Talseite ein etwa drei Meter breiter gepflasterter Bürgersteig. Auch Teile des Rathausplatzes trugen Katzenkopfpflaster und an den heiklen Steigungen der Stadt waren die Regenrinnen gepflastert. Es fand aber bereits so etwas wie eine Stadtentwicklungs-Diskussion statt. Aus einem Bürgerausschuß-Protokoll von 1904: "Herr Hauptlehrer Winter empfahl dem Gemeinderat sein Hauptaugenmerk auf die Anlage solcher Straßen richten zu wollen, an der die Stadt als Verkäuferin von Bauplätzen hohes Interesse hätte; er verwies dabei namentlich auf die projektierte Straßenanlage auf den Wiesen hinter dem Fehrenbachschen Hause (auf dem vorderen Stalter); solche Straßen sollten recht bald angelegt werden, um Baulustigen schöne Bauplätze anbieten zu können. Auch sollten die Straßen durch Baumanpflanzungen an den Rampen und Böschungen Verschönerungen erfahren. Die Herren Bürgerausschußmitglieder August Winterhalder und Johann Stoffler traten der Ansicht des Herrn Hauptlehrer Winter bei und ganz besonders war es Herr Dr. Stahl, der vom Bürgerausschuß zu dieser Frage noch das Wort ergriff.
Herr Dr. Stahl legte seine Ausführungen dafür ein, daß in hiesiger Stadt ganz entschieden mehr in der Unterhaltung, so in der Reinhaltung wie überhaupt in der Erreichung eines schöneren Straßenbildes geschehen müsse... Hierher gehöre vor allem die Anstellung eines weiteren Mannes, so daß zwei Tagelöhner ständig an der Inordnung- und Instandhaltung der Straßen arbeiten, denn ein Mann wie dies bisher geschehen, sei unbedingt zu wenig. Des weiteren wäre es nötig, daß ein Baumwart hier wäre..." Wir haben soeben die Geburtsstunde des städtischen Bauhofes erlebt.
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