Keltenkult und Kuckucksuhren

1. Tod im Sechser-Sessellift

Als die drei Männer an der Talstation am Seebuck ihre Plätze im Sechser-Sessellift eingenommen hatten, da sahen sie für jeden Beobachter aus, wie drei harmlose asiatische Touristen. Die Kamera um den Hals, teure Regenponchos über die Schultern, Anzughosen, beschlagene Nickelbrillen, lächerliche Hütchen auf dem Kopf und das asiatische Honigkuchengrinsen im Gesicht.
Als sie oben an der Bergstation aussteigen sollten, da entsprachen nur noch zwei von ihnen diesem Bild. Der dritte kippte vornüber, schlug mit den Zähnen an der Sessellift-Kante auf, dass es knackte wie beim Wallnuss-Öffnen, rutschte wie ein Sack Reis über den Liftausstieg, überschlug sich zweimal an der Böschung und bliebt dann, vom Regenponcho gnädig bedeckt, im Herbstgras liegen. Die beiden anderen Herren sahen sich stumm an, dann blickten sie in Richtung ihres abgegangenen dritten Partners, waren einige Sekundenbruchteile sprachlos, um dann, umso vehementer, laut und durcheinander, in Höllentempo und hoher Stimmenlage miteinander zu zetern und zu kauderwelschen.

Achim Laber, der großgewachsene Feldberg-Ranger, ein Kerl, blond, blauäugig, wie aus einem Lassie-Film, der, wie der Zufall so will, sich just zu diesem Zeitpunkt an der Bergstation des Sesselliftes aufhielte, konnte dem Lärmbrei aus hochfrequenten Vokalen zunächst wenig entnehmen. Er hatte mit dem Rücken zum Liftausstieg gestanden und deshalb nicht gleich mitbekommen, dass dort eine Leiche ausgestiegen war. Aber das aufgeschreckte Geschnatter der beiden Japaner – oder waren es Chinesen? – machte ihn aufmerksam, dass irgendetwas passiert sein musste.
Da drunten im Gras, direkt unter dem Sechser-Sessellift, lag eine Leiche. Mitten im Naturschutzgebiet sozusagen. Das war nicht nur ungewöhnlich, das war sogar ganz und gar gegen die Naturschutzverordnung. Und da es zu Achim Labers Aufgaben gehörte, über genau deren Einhaltung zu wachen, war es auch seine Aufgabe, sich um diese Leiche zu kümmern.

Er gab Sepp, dem diensthabenden Mitarbeiter der Liftbetriebe an der Bergstation, der eigentlich über den ordnungsgemäßen Ausstieg der Passagiere zu wachen hatte, im entscheidenden Moment aber durch die Lektüre eines zweifelhaften Magazins abgelenkt gewesen war, durch Zeichen und lautes Rufen zu verstehen, dass er den Sechser-Sessellift stoppen sollte. Dies geschah so abrupt, dass im nächstfolgenden Sechser-Sessel ein harmloser Fahrgast namens Konrad Horch, seines Zeichens Lehrer für Deutsch, Geschichte und allgemeine Lebenskunst an der Realschule im nahen Titisee-Neustadt ebenfalls schier auf die Almwiese des Seebuck katapultiert worden wäre. Eigentlich wollte er nur seinen Nachmittag nutzen, um einen magischen Stein zu suchen, von dessen Existenz auf dem Feldberggipfel er bei einem Vortragsabend erfahren hatte. Konrad Horch war nämlich ein Anhänger der Theorie von den magischen Steinen, welche Heimat von unergründlichen Kraftquellen und Energieströmen sein sollen. Solch ein magischer Stein sei in der Lage, die Menschen in seiner Nähe positiv mit Kraft und Energie zu beeinflussen, so hieß es. Konrad Horch, selbst in Wesen und Verhalten eine Art Fels in der Zivilisation, fühlte sich zu derartigen magisch-mystischen Steinen hingezogen und spürte sie überall im Schwarzwald auf, wo es nur den geringsten Hinweis auf ihre Existenz gab. Dieser magische Stein, dem er nunmehr auf der Spur war, befand sich angeblich im Fundament des Bismarck-Denkmals. Da das ganze Denkmal aus großen Steinbrocken bestand, die man einst auf dem Seebuck aufeinander gestapelt hatte, war die genaue Identifizierung des Wundersteins noch nicht gelungen.

Der Traum vom Ruhm, Erster und damit vielleicht sogar Namensgeber zu sein, bei der Entdeckung dieses mystischen Steines, wurde aber nun jäh unterbrochen durch die Ereignisse im Sessellift, dem – dies nebenbei bemerkt – der skeptische Pädagoge sich von Anfang an nur widerwillig anvertraut hatte. Er wurde jetzt vom Abflug kopfüber in die Wiese nur deshalb verschont, weil sich sein Anorak im Schließbügel des Sechser-Sessels verfangen hatte und deshalb wirkte wie ein Sicherheitsgurt. Allerdings wurde Horch heftig stranguliert und befand sich für den Bruchteil einer Sekunde auf dem schmalen Grat zwischen zwei gleichermaßen unangenehmen Todesgefahren, denen er aber dadurch entkam, dass der ganze Sechser-Sessellift mit seinem verwirrenden Geflecht von Führungs- Halte- Sicherungs- und Transportseilen in einem sanften Schaukeln zur Ruhe kam. Der Sechser-Sessel hüpfte mitsamt seinem Fahrgast wie ein Gummiball. Konrad Horch würgte kurz in seinen zottigen Vollbart hinein, zerrte den gewaltig strapazierten aber unbesiegten Anorak wieder in seine Ausgangsposition und verfolgte von seinem schaukelnden Hochsitz aus die weiteren Ereignisse, die sich unmittelbar drei Meter unter seinen baumelnden Beinen abspielten.
Dort hatte Achim Laber den fernöstlichen Leichnam inzwischen in eine vorbildliche stabile Seitenlage manövriert und ihm unerschrocken die erdigen Grasbüschel aus dem zerschlagenen Gebiss entfernt. Soweit war Achim Laber also schon zur Mund-zu-Mund Beatmung vorgedrungen, als ihm aufging, dass derartige Rettungsversuche zu spät kamen. Dem unbekannten Unglücksraben tropfte Blut aus Mund und Nase, die Augen, auch wenn es Schlitzaugen waren, waren geweitet und starr. „So kann nur ein Toter schauen“, fuhr es Laber durch den Kopf. Und als Naturmensch, der er war, blieb er bei dieser Erkenntnis nüchtern und unaufgeregt. Tod war für ihn kein Schrecken, der ihm die Trapperstiefel ausgezogen hätte. In der Natur war immer Tod. Das gehörte zum Leben.
Inzwischen hatte sich um den wackeren Feldberg-Ranger ein Grüppchen neugieriger Wanderer angesammelt. Sie diskutierten eifrig das Ereignis. Die Ansichten klafften weit auseinander und reichten von: „Die Sessellifte sind halt doch nicht sicher“ bis zu „Japaner können halt nicht Sessellift fahren.“ Bis es Achim Laber, der in dieser Lage so etwas wie die amtliche Autorität verkörperte, zu bunt wurde: „Der Mann war schon tot. Er ist aus dem Sessellift gefallen und war schon tot. Das können seine zwei Begleiter bestätigen…“ Er sah sich nach den zwei anderen Touristen um. Gerade eben standen sie doch noch oben am Ausstieg. Wo waren sie geblieben?

Achim Laber konnte es von seinem Platz aus bei der Leiche nicht sehen. Aber Konrad Horch, oben in seinem luftigen Sitz, hatte die beiden anderen Männer nicht aus den Augen verloren. Einen Moment lang hatten sie sich hektisch unterhalten, es schien sogar, als würden sie sich streiten. Das konnte Horch aber nicht genau identifizieren, erstens, weil er das asiatische Kauderwelsch der beiden Männer nicht verstehen konnte, zweitens, weil das Gefuchtel und Geschnatter durchaus auch als schockbedingte Aufregung hätte interpretiert werden können. Während der Feldberg-Ranger sich um das unglückselige Opfer gekümmert hatte, waren die beiden überlebenden Asiaten offenbar einvernehmlich zu der Überzeugung gekommen, dass es besser für sie sei, den Ort des Geschehens klammheimlich zu verlassen. So stahlen sie sich davon, indem sie – harmlose Wanderer markierend – bergwärts über die verregnete Kuppe davon schlenderten in Richtung alter Fernsehturm. Obwohl dieser in dichten Nebelwolken lag und nicht einmal als Schemen erkennbar war. Wussten die beiden Fremden, auf was sie sich einließen? Schon manch ein übermütiger oder unvorsichtiger Wanderer hat sich bei Schneegestöber oder Nebel auf dem Feldberg verirrt. Da gab es manche heimtückische Senke, manchen toten Dobel, manchen schroffen Abhang, manche unbezwingbare Felswand.

Doch zu spät. Weg waren sie, die beiden Herren in ihren Regenponchos, vom Nebel verschluckt. Nur Konrad Horch hatte ihren Abgang bemerkt. Er war aber schon wieder abgelenkt, denn just in diesem Moment setzte sich mit einem sanften Ziehen der Sechser-Sessellift wieder in Bewegung und trug ihn die letzten Meter nach oben bis zur Bergstation. Er betrachtete es nunmehr als seine selbstverständliche Pflicht als staatsbürgerlich engagierter Pädagoge, sich unverzüglich in das Geschehen einzumischen. Zunächst einmal musste ja wohl mal jemand diesem zivilisationsfernen Naturburschen von Feldberg-Ranger klar machen, dass es sich hier um eine Leiche handelte, und nicht um einen toten Hasen. Und folglich mussten alle unbefugten Wanderer und Schaulustigen, zu denen er sich selbst natürlich nicht zählte, vom Ort des Geschehens ferngehalten werden. Wobei es für Konrad Horch klar war, dass es sich bei diesem Ort um einen „Tatort“ handelte. Bei dem Toten folglich um ein Opfer. Bei dem ganzen Ereignis um einen Mord.


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